Von André Fesser
Der Blick über die Wiesen hat etwas Befreiendes. Das satte Grün des Niedervielandes entspannt Augen und Seele, und auch die Kühe, die auf der Weide herumliegen, tragen mit ihrer gleichgültigen Attitüde zur Erholung bei. Am Himmel ziehen ein paar Schwäne vorüber; einzig das dampfende Stahlwerk am Horizont und die hohen Bauten des Güterverkehrszentrums stören den Blick ins Idyll. Die nahen Industrieanlagen machen deutlich: Strom liegt nicht im Nirgendwo. Strom liegt mitten in Bremen.
Strom liegt in Bremen, zugleich aber mitten in im Grünen. Die Landwirtschaft spielt zwischen Ochtum und Weser noch immer noch eine große Rolle.
Wer den kleinen Ort am Ufer der Ochtum nicht kennt, tut sich schwer, in ihm einen Bremer Stadtteil zu erkennen. Strom ist ein Dorf. Es bietet Überschaubarkeit und Naturnähe, und das Leben dort hat mit der Hektik der Stadt nur wenig gemein. Im Gegenteil. Die Menschen in Strom zeichnen sich durch eine ländliche Gelassenheit aus. Fremden im Dorf begegnen sie zunächst schroff und spröde. Wer ihnen näher kommt, erntet aber Herzlichkeit und Freundlichkeit.
Es sind nicht viele Menschen, die in den Häusern entlang der Ochtum und der Stromer Landstraße ihr Leben bestreiten. 448 Einwohner wies die Statistik des vergangenen Jahres aus. Ortsamtsleiter Fred Mester spricht aktuell von rund 460 Stromern. Zu wenige, findet er. Strom soll wachsen, die Einwohnerzahl zunehmen. Junge Familien sollen nach Strom kommen und den Stadtteil verjüngen, ihn von innen heraus erneuern. Ein Baugebiet ist längst ausgewiesen. Vor allem grüne Argumente sollen die jungen Menschen locken. Die Wiesen des Niedervielands etwa und das Plätschern der noch recht ursprünglich wirkenden Ochtum. Hinzu kommen die Nähe zu den Verlockungen der Großstadt und die verkehrsgünstige Lage. "Wir sind nah dran an Bremen. Und zugleich findet hier das Leben in einer intakten Natur statt", sagt Fred Mester.
Strom kämpfte für die Grundschule
Obendrein hat Strom eine Grundschule. Das ist nicht selbstverständlich und das Ergebnis einer beherzten Auseinandersetzung mit der Bildungsbehörde. Vor einigen Jahren noch hatte der damalige Bildungssenator Willi Lemke die Schließung der Schule in Aussicht gestellt. Die Stromer wehrten sich vehement und mit Erfolg. Die Schule blieb. Zumindest bis heute. Die Gefahr einer Schließung besteht jedoch fort.
34 Kinder gehen an der Stromer Landstraße in die Schule, die sich das Gebäude mit dem Ortsamt teilt. Wenn sie die Grundschule absolviert haben, müssen die Kinder den Stadtteil wechseln. Eine weiterführende Schule gibt es in Strom ebenso wenig wie einen Kindergarten oder eine Tagesstätte. "Die Kinderbetreuung übernehmen wir hier selbst", sagt ein Stromer. So sei es schließlich immer schon gewesen.
Strom ist ein Wohndorf. Die meisten Menschen dort leben in schönen Häusern auf dem Deich, der die Ochtum vom Hinterland trennt, einige mit direktem Zugang zum Fluss und eigenem Anleger. Eine Handvoll Bauern betätigt sich in der Land- oder Viehwirtschaft, eine weitere Handvoll arbeitet als Nebenerwerbler im Stall oder auf der Weide.
Zur örtlichen Wirtschaft zählen auch einige Handwerker, deren Betriebe von der Stromer Landstraße aus zu sehen sind. Die übrigen Stromer arbeiten im Umland oder in Bremen – "in der Stadt", wie sie sagen. Oder im GVZ, dem Güterverkehrszentrum.
Das 1985 eröffnete Logistikzentrum liegt auf Stromer Gebiet im Nordosten des Stadtteils. Es zählt zu den großen Errungenschaften bremischer Wirtschaftsentwickler. Rund 8000 Menschen arbeiten dort in 150 Unternehmen. Knapp die Hälfte der rund 500 Hektar großen Gewerbefläche sind vergeben. Die Stromer nehmen es hin, den Stolz der Menschen an der Ochtum aber mehrt es nicht. Man lebt mit dem GVZ und hat registriert, dass sich der Verkehr im Ort in den vergangenen 25 Jahren deutlich verstärkt hat.
Dazu haben allerdings auch die Stromer selbst ihren Teil beigetragen. Der Bus fährt einmal in der Stunde, ein Auto gilt im Ort als kaum verzichtbar. "Viele Dinge des täglichen Lebens gibt es bei uns nicht", sagt Ortsamtsleiter Mester. So sucht man den Supermarkt an der Ecke vergebens. Es gibt keinen Fleischer und auch zum Brötchenholen oder Zeitungkaufen setzen sich die Stromer ins Auto und fahren nach Woltmershausen. Noch vor einigen Jahren gab es einen fliegenden Händler, der den Ort einmal in der Woche mit den nötigsten Dingen im Gepäck ansteuerte. Mittlerweile hat er diesen Dienst aber eingestellt. Fred Mester nimmt es gelassen: "Wir leben verkehrsgünstig. Mit dem Auto sind wir schnell in Woltmershausen, in Delmenhorst oder im Roland-Center." Die Kartoffeln kaufe man sowieso beim Bauern im Ort und auch die Eier besorge man sich beim Nachbarn an der Straße.
Diese Form des Austauschs schafft Gelegenheiten zur Begegnung. Andere Möglichkeiten zum gesellschaftlichen Miteinander bieten die Vereine im Ort, der Wassersportverein oder der landwirtschaftliche Verein. Die Freiwillige Feuerwehr in Strom ist mit 27 Mitgliedern überbesetzt, und auch der Rad- und Sportverein Strom zählt stolze 290 Mitglieder. Etwa 200 von ihnen sind Stromer, erzählt der 1. Vorsitzende, Christel Engelbart. Beinahe jeder Zweite im Ort ist somit in seinem Verein organisiert. Das Angebot passt zu den örtlichen Gegebenheiten und kommt ohne große Sportanlagen aus.
Die Tischtennis-Abteilung etwa trainiert in der kleinen Halle im Schulgebäude an der Stromer Landstraße. Dort hat auch die Eltern-Kind-Gruppe ihr Zuhause, ebenso die Gymnastikgruppe und die Tischtennisabteilung.
Geheimtipp "Wilkens Bauerndiele"
Gleich gegenüber, auf der anderen Straßenseite, haben die Vereinsmitglieder ein Beachvolleyballfeld angelegt, und nebenan liegt der Spiel- und Bolzplatz. Für die Kinder im Ort gibt es dort einen kleinen Fußballplatz unter Bäumen und mit Blick über die Wiesen des Niedervielands. Wenn das Wetter es zulässt, treffen sich die Stromer an dieser Stelle auch zum Feiern.
Andere Treffpunkte sind die örtlichen Gaststätten. Häuser wie "Piepers Mühlenhaus" an der Wiedbrokstraße oder Kurt Spilles Hotel-Restaurant "Zur Ochtumbrücke" am Ortsausgang Richtung Delmenhorst sind Anziehungspunkte für Ausflügler, aber auch für Ortsansässige. Die Mitglieder des Sportvereins treffen sich dort, oder die Vertreter der lokalen Politik. Ein Geheimtipp ist "Wilkens Bauerndiele", die etwas zurückversetzt von der Stromer Landstraße im Ortszentrum an der Ochtum liegt. Seit dem Krieg führt das Ehepaar Agnes und Christian Wilkens die Gaststätte. Mittlerweile sind beide über 80 Jahre alt.
Die Zeiten, in denen die Bauerndiele das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in Strom darstellte, sind längst vorbei. Im Inneren der Gaststätte scheint die Zeit aber stehen geblieben, die Momente, in denen die Dorfbewohner auf dem Dielenboden ausgelassen der Kapelle entgegentanzten oder hitzige Diskussionen – auf Plattdeutsch, natürlich – auch mal mit den Fäusten beendet wurden, sind förmlich greifbar.
Mittlerweile treten Agnes und Christian Wilkens etwas kürzer – auf ein Bier oder einen "lütjen Schluck" kommen die Stromer aber noch immer gern in die Bauerndiele.
Je mehr im Ort diskutiert wurde, umso besser waren die Zeiten für die Gastronomen. Die drohende Schließung der Schule, die Ausweisung eines Naturschutzgebiets im Niedervieland oder der Bau der Autobahn 281 sorgten für volle Beiratssitzungen mit 150 und mehr Besuchern. "Der einzige Schuh, der heute noch drückt, ist der Verkehr", sagt Frank Imhoff, einer der örtlichen Bauern und Mitglied der CDU-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft.
Wenn die A281 in einigen Jahren fertig ist, wird sie die Stromer Landstraße entlasten. "Dann haben wir endlich wieder eine richtige Dorfstraße", sagt Christel Engelbart. Und dann könnte sich das Stückchen Land zwischen Ochtum und Autobahn zum Anlaufpunkt für Stressgeplagte entwickeln.
Frank Imhoff hält Strom bereits heute für "das schönste Naherholungsgebiet links der Weser". Seine Familie lebt seit fünf Generationen an der Ochtum. Ginge es nach ihm, wird sie dort auch bleiben: "Die Jugend wird hier am Wasser groß. Gibt es etwas Schöneres?"
(Anmerkung des Ortsamtes: Die Gaststätten "Wilkens Bauerndiele" und "Piepers Mühlenhaus" sind beide mittlerweile geschlossen)